Wenn die Welt ihre Farben verliert
Wenn die Welt ihre Farben verliert

Wenn die Welt ihre Farben verliert

 

Krebs-Logbuch: 13.07.2022

Wenn die Welt ihre Farben verliert, das ist dieser Moment, wo mir klar wird, dass etwas nicht in Ordnung ist, etwas an Ort und Stelle ist, wo es nicht hingehört und sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt hat. Ein hartes Etwas ist unter meiner Haut oberhalb der Brust ertastbar. Zuerst schiebe ich es auf den Port, um mich zu beruhigen, doch es lässt mir keine Ruhe. Ich google mein Port-Modell und sehe, dass es nicht damit zusammenhängt. Schlagartig wird mir kalt, obwohl es ein warmer Sommertag ist. 


Sommer Krebs-Logbuch


Meine Frauenarztpraxis ist telefonisch nicht zu erreichen, klar, es ist Mittwochnachmittag. Verflixt, wie soll ich das Kopfkino nur ruhig bekommen? Dummerweise informiere ich mich im Internet über Brustkrebs und bin dadurch besorgter als vorher. Aber irgendetwas muss ich tun. Ich kann mit keinem darüber reden. Noch nicht. 


Krebs-Logbuch: 14.07.202

Heute ist ein neuer Tag und ich bin ohnehin in der Stadt, weil ich einen neuen Personalausweis benötige. Der wird auf 10 Jahre ausgestellt und ich frage mich, ob ich dieses Ablaufdatum erreichen werde. Mir ist klar, dass ich jeden Tag zu Tode kommen könnte, aber hey, weshalb muss es unbedingt Krebs sein? Moment, noch weiß ich nicht, ob es überhaupt Krebs ist. Schnurstracks laufe ich zu meiner Frauenarztpraxis, zu der Frauenärztin, zu der ich noch kein Verhältnis aufgebaut habe. Meine empathische Frauenärztin hat leider aufgehört und die Nachfolgerin ist etwas heikel.

Was für eine emphatische Arzthelferin

Die Helferin hört sich meine Sorgen an und ermöglicht mir einen sofortigen Termin. Ich schwanke zwischen Aufregung, Angst und Erleichterung und nehme im Wartezimmer Platz, indem sich eine schwangere Frau befindet. Gedankenverloren blättere ich durch den Stadtanzeiger, ohne nur ein Wort zu lesen. Meine Qual dauert zum Glück nur wenige Minuten und ich werde aufgerufen.

Von der Ärztin kann ich das nicht behaupten

Die Ärztin empfängt mich und erklärt mir, das ich ruhig bis nächste Woche zu meinem regulären Termin hätte warten können, das sei schließlich kein Notfall. Darf ich vorstellen: Meine neue Frauenärztin – Modell russischer Panzer! Ich entgegne: „Für mich schon.“ Das bemüßigt sie nur, ihre Augenbrauen weiter unter den Pony zu ziehen. Sie tastet mich ab, schallt und stellt am Ende fest, das es nicht gut aussieht und man da ran muss. Und schon war ich wieder draußen.

Mein Herz pocht so wild und ich kämpfe recht erfolglos gegen die aufsteigenden Tränen an. Habe ich mir echt eingebildet, dass ich eine Entwarnung bekomme, nach der ich mich so sehr sehne? Ich bin naiver, als ich es mir je vorgestellt habe. Ich versuche mich auf die Helferin zu konzentrieren, die mir einen Aufklärungsbogen über den Empfangstresen schiebt und mir erklärt, das sie alles dafür tun wird, damit ich rasch dran komme. Sie muss ein paar Telefonate führen, um Patienten umzuplanen und meldet sich bei mir. 

Alles steht still und trotzdem dreht sich der Boden unter meinen Füßen

Draußen auf der Straße spüre ich den warmen Sommerwind auf der Haut. Wird das mein letzter Sommer sein? Sieht es so aus, wenn die Welt ihre Farben verliert? Krebs ist ein gemeiner Verräter, ein hinterhältiger Scheißkerl. Ich wische mir mit den Händen über die Augen. Verdammt, die kommenden Tage werden feucht werden, das ist mir klar. Reiß dich zusammen, du schaffst das. Geheult wird erst zuhause. Nicht hier, vor all den fremden Leuten. Leichter gesagt als getan.

Aus einem Café schallt mir Unstoppable von Sia entgegen. Gilt das für mich oder für den Krebs. Was für eine Ironie.

In diesem Moment klingelt mein Handy, das ich vor lauter Hektik kaum aus der Tasche bekomme. Das ist echt nicht mein Tag. Endlich klemmt es unter meinem Ohr. Die nette Helferin aus der Praxis ist dran und hat schon einen Termin für mich. Mein geplanter Termin kommende Woche nur von der Uhrzeit her etwas nach hinten verlegt. Und in diesem Moment beglückwünsche ich mich dazu, heute zur Praxis gegangen zu sein. 

Mag die Ärztin anderer Meinung sein und behaupten, es sei kein Notfall. Sie kann nur drauf schauen und nicht rein; am Ende kann die Zeit über Sieg und Niederlage entscheiden und das fühlt sich eben wie ein miniwinziger Etappensieg an. 


Krebs-Logbuch 19.07.202

Für mich halte ich das aus.

Die Tage bis zur Gewebeentnahme sind für mich ein Schweben zwischen den Tagen, ein Schweben zwischen den Nächten, ein Schweben zwischen den Stunden.

Schweben habe ich mir federleicht vorgestellt, doch meine Gedanken sind bleischwer und ziehen mein Herz immer wieder in Tiefen hinab, die ich nie wieder betreten wollte.

Einmal Hölle und zurück muss doch reichen. Weshalb halte ich schon wieder ein Ticket in den Händen, das mich direkt zum Höllenschlund führt? Wird auch diesmal ein Rückfahrticket auf mich warten?

Wenn die Welt ihre Farben verliert, wird es eisig um mich herum. Die dunkle Angst schwappt über mich herein und verschlingt mich.  Lies hier weiter


Wenn die Welt ihre Farben verliert - Sommerabend am Fluss


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