Kategorie: Kurzgeschichten und Berichte
Reisebekanntschaft
„Entschuldigung, ist der Platz noch frei?“ Ein junger Mann äußert diese Frage in einem Tonfall, der keine Verneinung zulässt. Eilig räume ich meine Trinkflasche vom Sitz. „Ja, natürlich, Moment, die DB-Zeitungen können Sie behalten.“ Nun würde ich eine neue Reisebekanntschaft machen. „Die legen wir dahin.“ Mit einem lauten Knall fliegen sie auf meine Ablage. Umständlich holt er Geldbeutel, einen Liter O-Saft in einer Plastikflasche, ein Buch und einen silberfarbenen Kopfhörer aus seinem Rucksack. Nachdenklich lässt er den Blick über die freien Sitzreihen gleiten. „Ich glaube, Sie haben Glück. Sie werden wieder Ihre Ruhe haben.“ Er bückt sich nach seinen Habseligkeiten und schickt sich an den Platz zu wechseln. „Weshalb? Sind Sie so eine Zumutung?“ Sein Lächeln wirkt echt und für einen Moment rutscht sein Blick über die Anzeige über meines Sitzes. „Eigentlich nicht. Zu Oberfranken bin ich nett.“ Aha, woher weiß er, wo ich wohne? Da ereilt mich die Erkenntnis, dass über meinem Kopf die Reservierung Berlin-XXX in roten Buchstaben leuchtet. Er hat eindeutig lesen gelernt, was das Buch auf der Ablage vor ihm beweißt. Die silbernen Kopfhörer wandern auf seine Ohren. Er schnappt sich das Buch und zieht ein knitterfreies Busticket der VBB aus dem Portemonnaie. Ich erhasche einen Blick auf die Uhrzeit des Bons. Vierzehn Uhr! Mit routinierten Fingerbewegungen klemmt er den Fahrschein zwischen die letzte Seite des Buchrückens. Mir ist sofort klar, dass er das immer so handhabt. Es fungiert unterwegs als Lesezeichen Ersatz. Wohin ist er gefahren? Wo war ich zu diesem Zeitpunkt? Weshalb schieben sich solch unwichtige Gedanken in meinen Kopf? Auf jeden Fall kreuzen sich jetzt unsere Wege und was habe ich davon? Im Grunde ist es nicht von Bedeutung. Er setzt die Kopfhörer ab und ich nehme keinerlei Geräusch wahr. Mein fragender Blick wirkt aufdringlich genug. Er beugt den Kopf leicht zur Seite und erlaubte mir mit dieser Geste, meine Frage zu stellen. „Ich höre gar nichts.“ „Die machen Stille.“ „Aha!“ „Wollen Sie sie mal aufsetzen?“ Im Grunde nicht, aber es ist mir unmöglich, seinem Drängen zu widerstehen, und so rutschen sie auf meinen Kopf. Schicke Marken Kopfhörer. Augenblicklich habe ich dass Gefühl Watte in den Ohren zu haben. Alles um mich herum klingt gedämpft. Aber nichts ist weg. Die Teile sind ein gnadenloser Selbstbetrug. Lächelnd gebe ich sie ihm wieder zurück. „Sie wollen Stille haben? Stört Sie der Lärm wirklich so sehr?“ „Ich reise viel. Im Flugzeug sind sie noch hilfreicher, aber auch dieses unterschwellige Rauschgeräusch der Bahn ist nichts für mich.“ „Aha!“ Ich stelle fest, dass ich wenig Geistreiches zur Unterhaltung beizutragen habe. Der Regensburger vertieft sich wieder in seine Lektüre. Irgendein anspruchsvolles Buch, das meinen Geist heillos überfordern würde. Die Freude über einen regen Austausch fliegt dahin, wie die Landschaft vor dem Fenster. Was für eine stille Reisebekanntschaft. Je länger die Fahrt dauert, umso mehr wird mir klar, dass ich diejenige von uns beiden bin, die eine Zumutung darstellt. Zumindest für ihn. Neben mir sitzt ein hochsensibler Mann, der sich dringend vor der Reizüberflutung, die er scheinbar empfindet, abzuschotten versteht. Wie neunzig Prozent der Menschen, die ich heute in einer quirligen Stadt gesehen habe. Und inmitten dieser Massen ich. Die mit jeder Faser ihres Körpers nach dem Leben giert. Alles aufsaugt! Was mir heute begegnete, hätten unzählige Menschen auch sehen können, aber sie haben nicht hingeschaut und so blieb der Thermoskannen-Geisterbeschwörer nur meiner Aufmerksamkeit vorbehalten – und das war ein Erlebnis. Dinge sehen, Menschen anschauen, alles wahrnehmen; daran scheint keiner mehr Interesse zu haben. Und nun sitze ich hier, das genaue Gegenteil von ihm, mit dem Puls der Großstadt in den Adern und bin schon mit meinem Energiefeld eine Herausforderung für diesen empfindlichen Charakter. Es fällt ihm schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder blättert er vor und zurück. Schaut nach, welche Auflage er liest und versucht im Text weiter voranzukommen. Sein Zeigefinger dient ihm dabei als Hilfsmittel. Für einen Mann hat er einen verdammt kleinen Daumen. Was für eine verrückte Welt. Sie ist voller Widersprüche. Nach zwei Stunden Zugfahrt ist klar: Neben mir sitzt ein empfindsamer Mann mit guten Manieren, der es liebt, sich in erdbeerduftenden Lippenbalsam und Orangensaft zu ertränken, der etwas über Giraffenhälse liest und Geld für eine Stille ausgibt, die niemand kaufen kann. Er hat sich erfolgreich in seine Welt zurückgezogen und ich bin gezwungen, meine gesamten Tageseindrücke mit mir selbst auszumachen. Es braucht eine Stunde, ehe ich mich entspanne und die Ruhe von Mr. Regensburg auf mich abfärbt. Mehrfach unterdrücke ich ein Gähnen. Dieses Zusammentreffen ist doch nicht umsonst. Ich bin geraume Zeit in der Gedankenwelt mit ihm beschäftigt. Es wäre schön gewesen, wenn er für eine kurze Zeit in meine Welt getaucht wäre. Auf jeden Fall habe ich seine Welt geteilt und es hat mir gutgetan. Und es ist eine neue Erfahrung für mich, schweigend zu einigen Erkenntnissen über eine fremde Person zu kommen. Dieses Schweigen gibt mehr über ihn preis, als Worte je erzählen.